Die E-Commerce-Story von Tessamino: Wie ein Familienunternehmen 125 Jahre eigener Geschichte auf den Kopf stellt
“Du musst diese Firma ins Internet bringen, wenn sie eine Zukunft haben soll.” Es ist Dezember 2008. Jochen Hummel arbeitet für die Firma Schätzle gerade einen Monat als Vertriebsmitarbeiter, als er Firmeninhaber Ansbert Schätzle obige Nachricht präsentiert. Der Inhalt war Ansbert zu diesem Zeitpunkt bereits bewusst, denn er hatte schon erste Versuche mit der Verkaufsplattform eBay hinter sich. Mit dem Vorschlag klopft Jochen deshalb an die richtige Tür.
Der Wechsel in den E-Commerce und die Webseite tessamino.de würden später der größte in einer ganzen Reihe von Veränderungen sein, die die 125 Jahre lange Lebensspanne des Schuhmacher-Familienbetriebs Schätzle wie ein roter Faden durchzieht. “Tessamino ist die Zukunft dieses Unternehmens, seine neue Identität”, so das heutige Führungsteam zur damaligen Entscheidung.
Ich bin immer wieder fasziniert von langjährigen Familienbetrieben, von ihrer Fähigkeit, sich wechselnden Gezeiten anzupassen. Ich stelle mir den belastenden Druck vor, ein Familienvermächtnis zu erhalten, und die Angst vor dem Scheitern. Auch Ansbert kennt diese Situation. Ihm fällt dazu ein Satz seines Großvaters Hermenegild ein, der sein Dasein als Unternehmer mehr als jeder andere geprägt hat: „Mit Tränen wird gesät, mit Freude wird geerntet.“
Denn Mumm und eine Bereitschaft, die Richtung zu wechseln, ist genau, was Schätzle tat um sich mehr als ein Jahrhundert lang über Wasser zu halten. “Man kann sich nur durch Veränderungen wirklich treu bleiben”, behauptet Jochen. Er erklärt zudem, wie die Firma Anpassungsfähigkeit mit dem eigentlichen Firmenslogan “Qualität aus Tradition” verbindet. Und wie sie aus einem späten E-Commerce-Einstieg doch noch Erfolg schöpften.
Von der Kellerkammer zur Fabrik
Ansbert Schätzles Urgroßvater, der junge Schuhmacher Hermenegild Schätzle, begann im Jahr 1890 mit der Serienproduktion von Schuhen. Er war gerade von einer enttäuschenden Reise in die USA zurückgekehrt. Dort hatte er von den Amerikanern etwas über die Serienfertigung von orthopädischen Schuhen lernen wollen, jedoch nichts von Interesse gesehen. Zurück in Deutschland begann er auf eigene Faust, Prozesse für die Produktion größerer Stückzahlen auszutüfteln.
Das Konzept der Produktion in Serien war zu Hermenegilds Zeiten eine große Herausforderung für die etablierte Schuhindustrie, die sich auf Einzelanfertigungen konzentrierte. Wie Jochen uns erzählt, muss damals das bloße Auskommen schwierig gewesen sein: “Bis weit in die 80er Jahre ist selbst der heutige Firmeninhaber Ansbert die Hügel ‘rauf und ‘runter gefahren, um seine Schuhe in den Dörfern zu verkaufen. Aber er hatte Erfolg damit, was sich auch schon darin zeigt, dass 1987 die Produktion noch immer lief.” Mittlerweile allerdings in der dritten Generation, im ländlich gelegenen Tuttlingen, unweit des Schwarzwalds, “hoch droben auf der schwäbischen Alb”.
In genau diesem Jahr gab der Enkel des Gründers, Helmut Schätzle, ein bedeutend größeres Unternehmen samt Fabrik an Ansbert, seinen Sohn, weiter. Allerdings war die Firma damals am Boden. Ansbert, zu dieser Zeit gerade mal 22 Jahre alt, musste sich entscheiden, ob er mit nichts beginnen und die Firma nochmals neu aufbauen will. Er stellte sich der Aufgabe und führt seither den Betrieb.
Produktion oder Handel
Zuerst versuchte sich Ansbert als reiner Schuhhändler. Er verkaufte unbekanntere Schuhmarken von hoher Qualität in seinem Geschäft in Deilingen. Nach einigen Jahren als Händler-Hersteller-Hybrid kehrte er zur reinen Produktion zurück. Durch Outsourcing zu einer tschechischen Tochterfirma schaffte das Unternehmen einen sprunghaften Anstieg der Ertragskraft. Gleichzeitig blieb die Produktion von Hand von den Neuerungen unberührt.
Das Know-How für perfekte Schuhe wurde in der Familie über eine lange Zeit weitervererbt. Letztendlich resultierte das in einer Kooperation mit einem großen deutschen Healthcare-Hersteller, für dessen semi-orthopädische Schuhmarke Natural Feet Schätzle die Produktion übernahm.
Mit dem Erwerb von Natural Feet im Jahr 2006 wollte Ansbert seine eigene Firma wie ein U-Boot auftauchen lassen. Sie von einem zuverlässigen Zulieferer zu einer starken Marke mit Sichtbarkeit für den Handel machen. Heute ist dieser B2B-Zweig eine von zwei Hauptsäulen der Firma Schätzle.
Die Rückkehr nach Hause: Innovation von innen
Die zweite Säule ist für die Schwaben noch immer in der Mache, gewinnt aber Jahr für Jahr an Relevanz und soll bald der gravierendste Einfluss in mehr als 125 Jahren Existenz von Schätzle sein: ihr Online-Shop tessamino.de.
Mit den ersten Gehversuchen 2009 bei eBay, einem eigenen Amazon-Shop 2010 und der Entscheidung, 2011 einen eigenen Onlineshop ins Leben zu rufen, begann der Markt der Endverbraucher immer mehr in den Fokus zu rücken.
Jochen zufolge beschreibt diese Entscheidung treffend Ansbert Schätzle und den Geist des gesamten Unternehmens, das er verkörpert: “Er packt die Sachen an, mitsamt Veränderungen und Innovation.”
Vier Jahre später bezeichnet Jochen die Seite noch immer als ihr “Baby”, allerdings als eines, “das nun aufwächst. Die Zahlen sind hervorragend, unsere Marketing-Bemühungen fruchten und die Kunden erzählen anderen von ihren guten Erfahrungen. Tessamino ist die Zukunft der Firma, ihre neue Identität.”
Jochen verrät, dass von E-Mail-Signaturen bis zu Leuchtschildern an Firmenzentrale und Werkshallen, bereits alles im Sinne der Neuausrichtung geändert wurde. Doch das ist noch nicht alles.
Die Produktentwicklung wurde von Tschechien nach Deutschland verlegt. Für Jochen ein logischer Schritt, denn nach Meinung des Führungsteams sollten neue Prozesse nicht Agenturen oder Tochterfirmen in Tausenden Kilometern Entfernung überlassen werden. “Innovation sollte von innen kommen. Das heißt, man holt sich Talent in die Firma, anstatt Prozesse an externe Spezialisten auszulagern.”
Nachdem wir gesehen haben, wie Tessamino an Innovation und Flexibilität liegt, gibt es wenig Gründe zu glauben, dass sich die mutigen Unternehmer aus Schwaben nicht ein weiteres Mal erfolgreich neu erfinden können. Mit ihnen wird auch in Zukunft zu rechnen sein.